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Gegen den Strich gebürstet

Namasté!

Nachdem mich ein paar kleinere Verletzungen ein Weilchen von der Matte ferngehalten haben, ist jetzt alles wieder tiptop in Schuss und der Abwärts-Schauende-Hund und ich sind wieder Freunde.

Ich habe meine Zwangspause unter anderem dazu genutzt, mich ein bisschen eingehender mit Yogaphilosophie zu beschäftigen (sowie der Ausrichtung zweier Kindergeburtstage, der Magen-Darm-Grippe meiner Großen, der Bronchitis des Hundes und dem Umzug meiner Freundin Jennifer. Hätte ich mit einer konsequenten Asana-Praxis zeitlich gar nicht alles hinbekommen. (Gut, dass ich krank war.).

Das Thema, das mich gerade besonders beschäftigt, heißt: Vorlieben und Abneigungen.

Weites Feld. Unsere Vorlieben und Abneigungen definieren ja, wer wir sind.

Ätsch, Bätsch, reingefallen. Das tun sie eben nicht. Sie definieren, wovon unser EGO glaubt, wer wir sind. Großer Unterschied. Und wie jeder sich übende Yogi weiß: das Ego ist der Feind der Erleuchtung und der Verursacher von Leiden.

Leiden will ja niemand (schon Buddha sagte, frei übersetzt: Schmerz ist unvermeidbar, das Leiden darunter ist optional), deshalb versuchen wir beim Yoga, uns ein Stückchen vom Ego zu distanzieren und so, genau, nicht zu leiden.

Das kann in der Asana-Praxis sehr konkret werden.

Hast Du Dich schon mal trotz einer Schulterverletzung ins ganze Rad gequält, weil Du dem heißen Typen/der scharfen Brünetten hinter Dir zeigen wolltest, was Du alles drauf hast? Oder dem Lehrer? Der Lehrerin? Hast Du? Dann weißt Du ja, wovon ich spreche.

Ich hoffe, Du hast Dich mittlerweile auskuriert und darfst wieder mitmachen.

Da die Vorlieben und Abneigungen also so eng mit dem Ego verknüpft sind, ist es ratsam, sich auch von ihnen etwas zu distanzieren und beide mit Gleichmut hinzunehmen. Schafft man das dauerhaft, überwindet man das Leiden, es stellen sich Gelassenheit, Zufriedenheit und schlussendlich Erleuchtung ein. Tusch, Fanfare, Happy End.

Ich finde das klingt recht logisch, und Gelassenheit und Zufriedenheit sind ja auch ohne Erleuchtung schon eine super Sache.

Also. Sich von Abneigungen und Vorlieben distanzieren. Das tue ich jetzt mal und fahre zur nächsten Yogastunde mit der S-Bahn nach Charlottenburg anstatt dem Auto, Ist sehr viel umweltfreundlicher und entspricht zu 100% nicht meinen Vorlieben. Fantastisch.

Das Abteil ist überfüllt, ich habe sehr viel unerwünschten Körperkontakt, und ich weiß nicht, wohin mit meiner Yogamatte. (Ich pflege mit viel Gepäck zu verreisen. Leider. Da ich immer eine gewisse „Grundausstattung“ mit mir führe. Mehr dazu, wenn wir zum Stichpunkt „Anhaftungen“ kommen.)

Diese S-Bahn-Fahrt ist eine hervorragende Gelassenheitsübung. Ich konzentriere mich auf meinen Atem und schaffe es tatsächlich, in meine ureigene Stille abzutauchen.

Leider bekomme ich noch eine viel tiefer gehende Lektion. Die S-Bahn bleibt nämlich aus mir unbekannten Gründen mitten auf der Strecke stehen und bewegt sich für geraume Zeit gar nicht weiter. Was zweierlei Konsequenzen hat:

Erstens betrete ich den Yoga-Raum genau 8 Minuten nachdem die Stunde angefangen hat. Ich finde das unglaublich rücksichtslos und hasse es, wenn Leute das tun. Aber selten hatte ich eine Yogastunde so nötig wie nach dieser einstündigen S-Bahnfahrt. Nehme mir vor, in Zukunft gegenüber Zuspätkommern toleranter zu sein.

Zweitens ist der Raum so unfassbar voll, dass ich mich nur noch in die allerletzte Reihe schräg hinter der großen Säule quetschen kann. Direkt hinter mir die Wand, vor mir unzählige Füße.

Ok, das hasse ich jetzt wirklich. Ich bin ein Erste-Reihe-Streber, schon immer gewesen, bis auf eine kurze pubertäre Letzte-Reihe-Phase in der 11. Klasse.

Während der nächsten 80 Minuten muss ich über mich und mein Ego lernen, dass wir „letzte Reihe“ sehr viel schlimmer finden als S-Bahn fahren. Die ganze Yoga-Stunde schiele ich immer wieder neidisch auf das Mädchen, dass ihre Matte auf „meinem“ Platz ganz vorne ausgerollt hat. Beziehungsweise auf ihren Hintern. Mehr kann ich von meiner Position mit dem Rücken zur Wand ja nicht sehen. Hintern und Füße. Das ist alles. Ich fühle mich wie eine Katze, die man gegen den Strich streichelt (wer nicht weiß, was ich meine: latent aggressiv) und würde am liebsten wieder gehen.

Irgendwann ist die Stunde um. Ich liege im Savasana, das normalerweise einer der Höhepunkte meiner Praxis ist, so sehr rauschen die Endorphine durch meinen Körper.

Diesmal: Fehlanzeige. Ich liege unbequem, ich fange an zu frieren und Entspannung will sich einfach nicht einstellen. Stattdessen kann ich fühlen, wie meine Muskeln verkrampfen.

Toll.

Die Erkenntnis überrollt mich wie ein Panzer: Wie kann es sein, dass zwei objektiv so unwichtige Dinge wie eine kleine Verspätung und eine Ortsveränderung um nicht mal vier Meter eine derart große Auswirkung auf mein Wohlbefinden hat? So groß, dass es mir meine heißgeliebte Yogastunde ruinieren kann? So groß, dass anstatt Liebe und Mitgefühl, Ärger und Neid die dominanten Gefühle sind?

Hm. Ich schätze mal, wir haben da einen Übungsansatz, mein Ego und ich.

OM Shanti.

Deine Miriam

Miriam LangenscheidtGegen den Strich gebürstet